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Neurodivergenz und Intelligenz

Warum wir neue Maßstäbe brauchen


Neurodivergenz und Intelligenz sind keine Gegensätze. Im Gegenteil. Allerdings beschreiben beide Begriffe ein normiertes Denken, welches bewertet, einschränkt und Vielfalt nicht zulässt. Dabei könnten wir auch Intelligenz selbst als eine Form neurodiverser Vielfalt verstehen.


Doch zunächst zur Begriffsklärung: Neurodiversität bedeutet, dass alle Menschen unterschiedlich denken, fühlen und lernen. Was uns bei körperlicher Vielfalt selbstverständlich erscheint, gilt ebenso für unsere neuronalen Verbindungen: Jeder Mensch ist einzigartig.


Der Begriff „Neurodiversität“ unterscheidet sich dabei von „neurodivergent“ und „neurotypisch“. Diese setzen voraus, dass es eine Norm gibt (neurotypisch) und Abweichungen davon (neurodivergent). Doch genau diese Einteilung stößt zunehmend auf Kritik. Denn wer bestimmt, was „normal“ ist? Sind wir nicht alle Teil eines breiten Spektrums an Vielfalt?


Ähnliche Kritik gibt es bezüglich der Definition von Intelligenz. Seit Jahrzehnten werden IQ-Werte in einer Normalverteilung dargestellt: ein durchschnittlicher Wert von 100, eine Standardabweichung von 15. Die Grenze der Lernbehinderung liegt bei dieser Einteilung bei 75 Punkten, die zur Hochbegabung bei 130. Doch auch hier stellt sich die Frage: Wer setzt diese Grenzen? Und welche Fähigkeiten werden überhaupt gemessen? Standardisierte Tests erfassen vor allem sprachliche Fähigkeiten und mathematisch- logische Fertigkeiten – greifen damit aber deutlich zu kurz.


Und so halten wir hier fest: Vielfalt ist kein Sonderfall, sondern der Normalfall. Deshalb lohnt sich ein genauerer Blick – auf unser Verständnis von Intelligenz und auf die Chancen, die sich aus einer differenzierteren Perspektive ergeben. Und darauf, was das mit unserem Verständnis von Neurodiversität macht.


Intelligenztests greifen zu kurz

Seit Langem gelten IQ-Tests als objektives Maß für kognitive Leistungsfähigkeit. Tatsächlich bilden sie jedoch nur Teilbereiche ab. Kreativität, emotionale Intelligenz oder soziale Kompetenz erscheinen darin nicht.


Diese Fokussierung prägt unser Denken. Jemand, der beim Rechnen schwächelt, gilt als „leistungsschwach“, auch wenn er oder sie herausragende künstlerische Fähigkeiten zeigt. Wer im IQ-Test unterdurchschnittlich abschneidet, wird schnell unterschätzt, selbst wenn er oder sie zwischenmenschlich sehr einfühlsam ist und sich gut in andere hineinversetzen kann. Das Problem liegt also nicht beim Einzelnen, sondern in der Verengung unseres Blicks: Wir messen nur das, was ins Raster passt, und verlieren darüber die Vielfalt jenseits davon aus dem Blick.


Hier setzt das Konzept der „Multiplen Intelligenzen“ von Howard Gardner an. Ihm zufolge ist Intelligenz nicht starr, sondern dynamisch – und eng mit dem Prinzip der Neuroplastizität verbunden, also der Fähigkeit des Gehirns, sich lebenslang zu verändern und anzupassen.


Gardner unterscheidet acht Intelligenzen:

  • Sprachliche Intelligenz: der Umgang mit Sprache, mündlich und schriftlich

  • Logisch-mathematische Intelligenz: Zahlen und logische Zusammenhänge verstehen und anwenden

  • Räumliche Intelligenz: visuelle Informationen aufnehmen und in Gebilden umsetzen

  • Musikalische Intelligenz: Rhythmen und Klänge verstehen, unterscheiden und ausdrücken

  • Körperlich-kinästhetische Intelligenz: den Körper gezielt einsetzen, um Ideen auszudrücken oder Dinge zu gestalten

  • Intrapersonale Intelligenz: Zugang zu den eigenen Gefühlen und deren Einfluss auf das Verhalten

  • Interpersonale Intelligenz: die Fähigkeit, Stimmungen, Absichten und Bedürfnisse anderer zu erkennen

  • Naturwissenschaftliche Intelligenz: Sensibilität für Naturphänomene und ökologische Zusammenhänge


Gardners Modell macht deutlich: Jeder Mensch verfügt über all diese Bereiche – in unterschiedlicher Ausprägung, miteinander verbunden und entwickelbar. Damit steht das Modell für Pluralität und fordert, insbesondere im Bildungssystem, mehr Differenzierung. Gardner bringt es auf den Punkt: „Eine Erziehung, die alle gleich behandelt, ist die ungerechteste, die es geben kann.“


Defizite oder unerkannte Stärken?

Mit Gardners Modell erlangen wir einen neuen Blick auf Intelligenz und neuronale Vielfalt. Der Begriff „Neurodiversität“ macht das deutlich, denn er steht dafür, Unterschiede nicht als Störung, sondern als Variation zu begreifen. Eigenschaften, die in normorientierten Systemen wie Defizite wirken, können in anderen Kontexten entscheidende Stärken sein.


  • ADHS: Schwierigkeiten mit Organisation und Konzentration, dafür aber Spontaneität, Vielseitigkeit und Kreativität – oft verbunden mit der Fähigkeit, in chaotischen Situationen den Überblick zu behalten.*

  • Autismus-Spektrum: Herausforderungen in sozialen Interaktionen, zugleich jedoch eine enorme Detailgenauigkeit und Expertise in Spezialinteressen.*

  • Dyslexie: Hürden beim Lesen und Schreiben, aber überdurchschnittliche visuell-räumliche Fähigkeiten wie beispielsweise Architekt:innen oder Designer:innen sie haben.*

(* Die Aufzählungen dienen nur als Beispiele: mir ist bewusst, dass auch diese Bezeichnungen (ADHS, Autismus, Dyslexie) eine heterogene Gruppe beschreiben)


Besonders eindrucksvoll sind Geschichten von Menschen, die hochbegabt sind und zugleich neurodivergente Eigenschaften haben (twice-exceptional). In einer deutschen Untersuchung wurden Kinder beschrieben, die in Intelligenztests Spitzenwerte erreichten, zugleich aber massive Schwierigkeiten im schulischen Alltag hatten. Lehrkräfte nahmen sie als „unaufmerksam“ oder „leistungsschwach“ wahr – weil ihre Fähigkeiten von ADHS-Symptomen überdeckt wurden.


All diese Beispiele zeigen: Defizit und Talent sind zwei Seiten derselben Medaille. Entscheidend ist der Kontext, ob wir den Blick auf die Schwächen richten oder die Stärken sehen.


Strukturelle Barrieren und ihre Folgen

Unser Bildungssystem ist stark auf Standardisierung ausgelegt. Prüfungen bewerten vor allem sprachlich-lineares Lernen. Wer hier nicht hineinpasst, wird benachteiligt.


Kinder mit ADHS gelten oft als „leistungsarm“, selbst wenn sie in offenen Projekten kreative Höchstleistungen erbringen. Hochbegabte Autist:innen wirken nach außen angepasst – doch nur, weil sie viel Energie in sogenanntes „Masking“ investieren, also das bewusste Verbergen ihrer Eigenheiten. Das verhindert, dass ihre Potenziale sichtbar werden, und führt nicht selten zu Underachievement: Sie bleiben weit hinter ihren tatsächlichen Möglichkeiten zurück.


Solche Barrieren sind nicht zufällig. Sie entstehen, weil unsere Systeme Vielfalt nicht ausreichend berücksichtigen. Das Problem ist nicht die Vielfalt, sondern ihre ungleiche Bewertung.


Neue Konzepte von Intelligenz

Wenn wir Intelligenz neu denken wollen, brauchen wir Modelle, die die Breite menschlicher Fähigkeiten sichtbar machen. Gardners Theorie der „Multiplen Intelligenzen“ liefert hier wertvolle Impulse.


Doch Theorie allein genügt nicht. In der Praxis braucht es eine Pädagogik, die ressourcenorientiert arbeitet und Stärken stärkt. Ein Kind, das in Mathematik schwächelt, aber im Zeichnen brilliert, sollte in seinem Talent gefördert werden. Über diese Motivation lassen sich auch andere Kompetenzen erschließen.


Praktische Ansätze existieren bereits: projektorientiertes Lernen, Gamification, interessengeleitete Aufgaben. Solche Methoden erlauben Kindern, ihre Leidenschaften einzubringen, Selbstbewusstsein aufzubauen und zu erfahren, dass Lernen Freude machen kann – nicht, weil es Pflicht ist, sondern weil es sinnvoll und relevant ist.


Selbstbewusstsein und Teamgedanke

Neurodiversität macht deutlich: Niemand ist in allem stark. Intelligenz ist verteilt. Ein Team, in dem verschiedene Denkweisen zusammenkommen, ist leistungsfähiger als eine Gruppe gleichgesinnter Spezialist:innen.


Wenn wir Unterschiede anerkennen, entsteht Ergänzung statt Konkurrenz. Menschen lernen, dass sie nicht in jedem Fachgebiet glänzen müssen. Es reicht, wenn sie ihre eigenen Stärken kennen, und die der anderen wertschätzen. Dieses Bewusstsein fördert Selbstvertrauen und Teamgeist.


Für sogenannte neurodivergente Menschen bedeutet das Befreiung: Sie müssen nicht länger versuchen, „normal“ zu sein. Sie dürfen sie selbst sein – und genau darin liegt ihr Wert.


Ein Plädoyer für ein individuelleres System

Wenn wir über Intelligenz und Neurodiversität sprechen, geht es letztlich um eine grundlegende Perspektive: Soll das Individuum normgerechter werden – oder das System individueller?


Die Antwort ist eindeutig. Wir brauchen Menschen, die Kinder nicht an Durchschnittsnormen messen, sondern ihnen Räume geben, ihre eigenen Stärken zu entfalten. Wir brauchen Arbeitsmärkte, die Vielfalt wertschätzen, statt Lebensläufe zu standardisieren. Und wir brauchen eine Gesellschaft, die versteht: Vielfalt ist keine Ausnahme, sondern Normalität.


Neurodiversität ist kein Sonderfall, sondern Realität für uns alle. Intelligenz ist nicht nur eine Zahl, sondern Ausdruck dieser Vielfalt. Je schneller wir uns von engen Normen lösen, desto eher können wir das volle Potenzial entfalten – als Individuen und als Gesellschaft.


(Dieser Artikel erschien im Heft 106 der Freilernerzeitschrift. Die Ausgabe mit weiteren Artikeln zum Thema "Intelligenz" findet ihr hier: https://freilerner.de/produkt/heft-106-intelligenz/)

 
 
 

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