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Schulnormativität: Ein kritischer Blick auf die Annahme „Bildung = Schule“

Aktualisiert: vor 4 Tagen

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In unserer Gesellschaft wird Bildung häufig mit schulischer Bildung gleichgesetzt. Der Begriff Schulnormativität bezeichnet die tief verwurzelte gesellschaftliche Vorstellung, dass Lernen vor allem – oder gar ausschließlich – innerhalb der Institution Schule stattfinden könne. Diese Annahme prägt unser Denken, unsere Strukturen und nicht zuletzt unsere Gesetzgebung. Dabei bleibt vieles unbeachtet, was über den Klassenraum hinaus an Lern- und Bildungsprozessen geschieht. Noch viel mehr verkennt schulnormatives Denken selbstbestimmte Lern- und Bildungsanlässe, die durch Neugier, Motivation und Interesse initiiert werden. Bis zum sechsten Lebensjahr haben Kinder bereits laufen, sprechen, essen und vieles mehr gelernt. Sobald sie jedoch das sogenannte Schuleingangsalter erreichen, wird plötzlich angenommen, dass altersgerechtes Lernen nur noch innerhalb des Schulgebäudes und in Gegenwart Gleichaltriger stattfinden könne. Schulnormativität beschreibt also die gesellschaftliche Annahme, Lernen finde nur dort statt, wo Erwachsene – ob als Lehrkraft, in der Verwaltung oder in der Politik - Zeitpläne, Räume, Inhalte und Bewertungsverfahren vorgeben.


Die Folgen von Adultismus im Bildungskontext

In der Pädagogik wird dieses Machtgefälle als „Adultismus“ bezeichnet, also als strukturelle Benachteiligung von Kindern und Jugendlicher gegenüber Erwachsenen. Schulnormativität ist damit im Kern adultistisch, da sie hierarchische Strukturen legitimiert, in denen Erwachsene die Definitionsmacht darüber haben, was „wissenswert“ ist und welche Person als wie lernfähig gilt. Durch Druck, Zwang und Bewertung werden Leistungsvorgaben gemacht, Noten vergeben und Abschlüsse erteilt. Wer den engen Zeitrahmen der Schulpflicht, das Bewertungssystem und die starren Curricula nicht erfüllt, gilt schnell als „Versager“. Dies trägt zu Stress, Prüfungsangst und Burn‑out bei. Bereits heute weisen große Bildungsstudien wie etwa das Deutsche Schulbarometer auf das erhebliche Ausmaß psychischer Belastungen deutscher Schüler:innen hin. Längst wäre es Zeit zu handeln und aus den Ergebnissen Handlungsempfehlungen für Schule und Elternhaus abzuleiten. Doch bis heute wird stattdessen psychisches Leid relativiert oder negiert.


Eurozentristische Wurzeln der Schulnormativität

Darüber hinaus basieren die Lehrpläne häufig auf westlich-eurozentrischen Wissenskonzepten. Alternative Wissensformen – indigene, nicht-westliche oder informelle – bleiben unberücksichtigt. Die Schulen werden als Vorbereitung für den Arbeitsmarkt verstanden und Bildung damit zur Ware, in der Produktivität, Effizienz und Konkurrenzdenken dominieren. Auf den Schulhöfen und im Unterricht wird gefordert, deutsch sprechen zu müssen, ohne die vielfältigen Lernanlässe anderer Kulturen zu nutzen und diese in den Fächerkanon zu integrieren. Unter dem Vorwand der besseren Integrationsmöglichkeiten durch die Verwendung der deutschen Sprache werden Menschen, deren Erstsprache eine andere ist, systematisch ausgegrenzt und diskriminiert, statt die vorhandene sprachliche Vielfalt als Ressource zu begreifen und produktiv zu nutzen.


Warum progressive Bildungsentwicklung stockt

Schulnormatives Denken verhindert außerdem demokratische Mitbestimmung, bedingt durch die Top-down-Organisation der Institutionen. Lernende haben selten Entscheidungsbefugnis über Lehrinhalte oder Lernmethoden – echte Mitbestimmung und Konsensfindung bleiben Wunschdenken. Freie Schulen verzeichnen seit Jahren eine enorme Nachfrage, doch die Zahl der verfügbaren Plätze bleibt begrenzt. Gleichzeitig werden Genehmigungsverfahren für alternative Schulformen nicht etwa erleichtert, sondern sind oft so langwierig und ressourcenintensiv, dass viele Initiativen scheitern, bevor sie überhaupt die Möglichkeit einer Eröffnung erreichen.


Ausgrenzung, Bestrafung und Diskriminierung als Folgen

Und während viele sich im Alltag für Vielfalt stark machen, ignoriert schulnormatives Denken Diversität. Neurodiversität, das Spektrum neurologischer Unterschiede wie zum Beispiel ADHS, Autismus, und anderer, wird in traditionellen Schulen oft pathologisiert. Das fördert Ableismus, die Diskriminierung aufgrund (vermeintlicher) Behinderung, und verhindert inklusive Lernumgebungen und festigt soziale Ungleichheit. Summa summarum führt Schulnormativität zu Ausgrenzung, Bestrafung und Diskriminierung von Menschen, die sich in Schule nicht bilden wollen oder können, sowie von Lernenden, deren Bedürfnisse und Bedarfe Schule nicht gerecht wird. Marginalisierte junge Menschen und Erwachsene, die im Schulalltag nicht (mehr) ihren Lern- und Arbeitsort sehen, erlebt oft subtilen Druck, gesellschaftliche Abwertung oder offene Sanktionen. Somit verhindert schulnormatives Denken auch einen ganzheitlichen, diskriminierungssensiblen Kinderschutz.


Wege zu einer pluralistischen Bildungslandschaft

Diese Konzepte zu kennen und zu verstehen, hilft, die Mechanismen hinter Schulnormativität aufzudecken und alternative Bildungswege wertzuschätzen. Wie können wir aber nun Wege zu einer pluralistischen Bildungslandschaft finden? Da wäre zum einen die Entwicklung außerschulischer Lernorte voranzutreiben. Lernwerkstätten, Makerspaces oder freie Projekte, in denen junge Menschen selbst entscheiden, was und wie sie lernen und selbstbestimmtes, interessenbasierte Lernen in den Fokus rückt, könnten Schule das Bildungsmonopol nehmen und eine vielfältige Bildungslandschaft und somit den Zugang für marginalisierte Gruppen ermöglichen. Darüber hinaus würde in Bildungseinrichtungen durch projektartiges und forschendes Lernen statt vorgegebener Lehrpläne ermöglicht, das junge Menschen offene Aufgaben- und eigene Fragestellungen entwickeln und somit Interessen vorantreiben und Stärken weiter ausbauen könnten. Durch Peer‑Learning und Mentoring könnten Lernende sich gegenseitig unterstützen, während Erwachsene auf Augenhöhe begleiten könnten. Somit würden hierarchische Strukturen abgebaut und Möglichkeiten für politische Bildung und Mitbestimmung geschaffen. Schülerräte, Lernparlamente und partizipative Curriculums-Entwicklung würden politische Kompetenzen junger Menschen stärken und schon früh demokratische Strukturen entstehen lassen.


Zusammenfassend ist zu sagen, dass Schulnormativität es erschwert, Lernen als ganzheitlichen, vielfältigen und lebenslangen Prozess zu begreifen. Sie verengt Bildung auf ein enges Korsett von Zielen, Methoden und Bewertungssystemen. Dabei existieren zahlreiche Beispiele und Studien, die zeigen, wie selbstorganisiertes, diversitätsorientiertes und demokratisches Lernen sowie eine progressive Bildungsentwicklung gelingt. Eine zukunftsfähige Bildungslandschaft muss Vielfalt anerkennen, Räume schaffen für selbstbestimmtes Lernen und Machtstrukturen hinterfragen. Es ist an der Zeit, soziale Strukturen, Normen, Sprache und Gesetze an die Möglichkeiten und Realitäten des 21. Jahrhundert anzupassen. Denn Bildung ist mehr als Schule – sie ist eine Lebenshaltung.

 

 

Fachbegriffe im Überblick

  • Adultismus: Bezeichnet diskriminierende Strukturen, die Erwachsene gegenüber Kindern und Jugendlichen bevorteilen.

  • Eurozentrismus: Die Ausrichtung auf westliche Denk- und Wertsysteme als Norm, die andere Wissens- oder Lebensweisen unterordnet.

  • Neurodiversität: Anerkennung, dass neurologische Varianten (z. B. ADHS, Autismus, Dyslexie, …) natürliche Unterschiede sind und nicht zwangsläufig Störungen.

  • Ableismus: Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen oder Behinderungen.

 
 
 

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