Schulabsentismus als Chance?
- Jacqueline Vial
- 7. Apr.
- 3 Min. Lesezeit

Schulverweigerung als Entwicklungschance – ein Perspektivwechsel
Wenn Kinder oder Jugendliche nicht mehr zur Schule gehen, schrillen bei vielen sofort die Alarmglocken. Bilder von Jugendlichen, die „nichts auf die Reihe bekommen“ oder gar „auf der schiefen Bahn“ landen, dominieren unsere Vorstellung. Doch was wäre, wenn Schulverweigerung nicht automatisch ein Problem, sondern auch ein Hinweis auf Entwicklungspotenzial ist? Ich möchte dir eine andere Perspektive anbieten.
Vom Problem zur Chance: Schulverweigerung neu gedacht
Die klassische Sichtweise auf Schulverweigerung ist problemorientiert: Fehlzeiten bedeuten Versagen – des Kindes, der Eltern, der Schule. Doch Johanna Kiniger zeigt in ihrem Buch „Schulverweigerung als Entwicklungschance? – Ein systemisch-lösungsfokussierter Ansatz – Das Neun-Phasen-Modell der Schulverweigerung, eine andere Perspektive: Schulverweigerung als symptomatische Reaktion auf ein System, das für manche junge Menschen nicht passt. Und vor allem: als aktive Suchbewegung nach einem stimmigeren, selbstbestimmteren Bildungsweg.
Schulabsentismus: Mehr als "nicht wollen"
In der Analyse zeigt sich: Schulverweigerung ist selten Ausdruck von Faulheit. Vielmehr sprechen wir von einem komplexen Zusammenspiel innerer und äußerer Faktoren – darunter emotionale Belastungen, systemische Unstimmigkeiten, fehlende Passung zwischen schulischen Anforderungen und individuellen Bedürfnissen. Ob somatische Beschwerden wie Bauchschmerzen, stiller Rückzug oder offenes Protestverhalten – sie alle können Ausdruck der sogenannten Disaffektion sein, eines Zustandes innerer Ablehnung oder Überforderung.
Warum das System nicht immer passt
Das deutsche Schulsystem geht oft von einer Einbahnstraße der Anpassung aus. Schüler*innen müssen sich fügen – räumlich, zeitlich, inhaltlich. Doch wo bleibt die Flexibilität? Die „Passung“ zwischen Mensch und System ist entscheidend – für Motivation, Flow-Erleben und nachhaltige Lernprozesse. Wird sie dauerhaft verfehlt, sind Rückzug, Widerstand oder Resignation nachvollziehbare Konsequenzen.
Schulverweigerung als Entwicklungsmotor?
Kiniger zeigt in ihrer Arbeit eindrücklich: In vielen Fällen verändert sich durch die Schulverweigerung nicht nur der äußere Alltag, sondern auch das Selbstbild der jungen Menschen. Sie beginnen, auf ihre Bedürfnisse zu hören, entdecken neue Interessen, entwickeln Selbstwirksamkeit und ein besseres Verständnis für ihre Grenzen. Sie lernen, für sich einzustehen – auch gegen gesellschaftlichen Druck.
Diese jungen Menschen:
gönnen sich Erholung und kreative Freiräume,
entdecken ihre Stärken neu,
knüpfen neue, tragfähige soziale Beziehungen,
übernehmen Verantwortung für ihren Weg.
All das sind elementare Bildungs- und Entwicklungsprozesse, die außerhalb des traditionellen Schulsystems angestoßen werden.
Was es jetzt braucht: Reframing und neue Wege
Statt Defiziten sollten wir nach Ressourcen fragen. Statt über das „Problemkind“ zu sprechen, sollten wir verstehen: Was will uns dieses Verhalten sagen? Was braucht dieser junge Mensch, um wachsen zu können? Der lösungsorientierte Ansatz von Steve de Shazer bringt es auf den Punkt: „Problemsprache schafft Probleme – Lösungssprache schafft Lösungen.“
Das bedeutet konkret:
mehr Partizipation im Schulalltag,
mehr Verständnis für individuelle Lebensrhythmen,
alternative Lernformen, die an die Motivationen und Interessen der Kinder andocken,
stärkere Beziehungsarbeit zwischen Lehrkräften, Eltern und jungen Menschen,
eine Schule, die nicht nur Leistung, sondern Menschsein im Blick hat.
Und eine konstruktive und unterstützende Arbeit, wenn junge Menschen keinen anderen Ausweg als Schulabsentismus sehen.
Mut zum Perspektivwechsel
Schulverweigerung ist nicht das Ende der Bildungsbiografie. Im Gegenteil: Sie kann der Anfang einer echten, selbstbestimmten Entwicklung sein – wenn wir den Mut haben, alte Denkmuster zu hinterfragen. Kinder und Jugendliche, die aus der Schule aussteigen, sind keine verlorenen Seelen. Sie sind Suchende – und manchmal Wegweiser für ein Bildungssystem, das selbst in Bewegung kommen muss.
Lasst uns nicht fragen: „Wie kriegen wir dieses Kind zurück in die Schule?“
Sondern: „Wie können wir einen Bildungsweg unterstützen und gestalten, unabhängig von einem einzelnen Ort, der junge Menschen Bildung wirklich erfahren und erleben lässt?“
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